Seit den legendären Reisen Marco Polos bestehen enge Beziehungen zwischen den westlichen und chinesischen Kulturen. Dieser Austausch betrifft im Besonderen den Bereich der Medizin und unsere Vorstellungen über den menschlichen Körper und seiner Gesundheit. In der Geschichte war dieses Zusammenspiel von Bewunderung, aber auch von gegenseitigem Missverstehen geprägt. Dass es in unserer Zeit durch neueste Forschung auf erstaunliche Weise zu neuer Bedeutung kommt, ist Thema dieses Blogs.
Erste Teilaspekte der Traditionellen Chinesischer Medizin gelangten mit der legendären Reise von Marco Polo (1254-1324) und seinem Bericht Wunder der Welt nach Europa.[1] Auf seinen Erkundungen des chinesischen Reichs zur Zeit der Yuan-Dynastie kam Polo mit Anwendungen der traditionellen chinesischen Heilmethoden[2] und auch der Akupunktur in Berührung. Sein einflussreicher Reisebericht eröffnete einem westlichen Publikum, ganz punktuell, einen ersten Einblick in die erstaunlichen Kenntnisse und Praktiken einer fremden Kultur.
Verschiedene Verfahren und Methoden der Traditionellen Medizin (TM) in Europa, wie sie zum Beispiel in der Herbalist Charter des englischen Königs Heinrich des VIII (1491-1547) gewürdigt und bereits in Hinblick auf ihre Standardisierung dokumentiert werden,[3] gehen danach mit der frühneuzeitlichen Forschung auf chinesischer Seite (erwähnt seien nur die pharmakologischen Studien des Gelehrten Li Shizhen 1491-1547) [4] über die Jahrhunderte hinweg einen Austausch ein. Seit dem 19. Jahrhundert und dem Beginn der Moderne, traten neben allen Problemen des europäischen Handels mit China auch die ideengeschichtlichen Gegensätze deutlicher heraus. Hier die mehr und mehr naturwissenschaftlich fundierte Medizin des Westens, dort die traditionell-chinesischen Heilmedizin ohne beweiskräftige Verankerung.
Nach der Gründung der chinesischen Volksrepublik im Jahr 1949, sollten die als rückständig geltenden Heilverfahren Chinas in einen mit westlichen Technologien konkurrenzfähigen Rahmen gebracht werden: Nun auf den Namen TCM getauft, gelangte auf diese Weise eine deutlich kompaktere Traditionelle Chinesische Medizin zurück in die westlichen Gesellschaften.[5] Mit der gelungenen Annäherung der USA an China unter Nixon in den siebziger Jahren, intensivierte sich diese Beziehung weiter. In einem spiegelbildlichen Verhältnis trafen sich nun skeptischen Sehnsüchte der alternativen Bewegungen (New-Age-Kulturen) sowie die zunehmend populären fernöstlichen Heilpraktiken (wie Akupunktur, Yoga, Meditation) im Westen, mit einem tiefen Bedürfnis nach naturwissenschaftlicher Durchdringung der eigenen Medizintradition auf chinesischer Seite.
Mit Beginn des 21. Jahrhundert stellt sich die Frage nach dem kooperativen Zusammenspiel zwischen beiden Schulen erneut. Und unter dem Eindruck technologischer und wissenschaftlicher Innovationen erweist sich das Verhältnis als
unerwartet produktiv. Um diesen Horizont klarer zu fassen, lohnt es, sich zunächst die theoretischen grundlagen der chinesischen Medizin und der oben genannten Disziplin vor Augen zu führen.
Die oft als reduktionistisch beschriebene westliche Medizin (der menschliche Körper wird in immer winzigere Teile zerlegt) hat jenen enormen Wissenszuwachs in allen Teilgebieten medizinischer Forschung und Praxis eröffnet, der zu den humanitären Errungenschaften unserer Lebenswelt führte. Weil so der Blick für das gesamte Ganze aus den Augen kommen kann, wird mit Reduktionismus oft auch ein skeptischer Unterton und eine methodische Kritik verbunden.
Die holistisch-taoistische Medizintradition Chinas (der menschliche Körper ist als ein komplexes Gesamtsystem verstanden) scheint dazu in einem gegensätzlichen Verhältnis zu stehen. Die aktuellen Forschungen insbesondere in der Systembiologie zeigen jedoch, dass die Zukunft einer globalisierten und durch digitale Technologien erweiterten Medizin kaum in jenen alten Polaritäten zu denken ist. So ist es zum Beispiel notwendig, chemische Moleküle nach dem auf Evidenz beruhenden Beweisprinzip der Naturwissenschaft zu erforschen. Mit diesem bottom-up Ansatz lassen sich partikulare Grundstrukturen (etwa von Genen oder komplizierten molekularen Verbindungen) aufdecken. Die biologischen Konsequenzen dieser Entdeckungen aber werden erst mit dem Wissen um das dynamische Zusammenwirken dieser Grundpartikel (in ihrem jeweiligen organischen Netzwerk) verständlich, wie es für das Denken der TCM chinesischen Medizin wesenhaft ist.[6] In der modernen Systembiologie liegt daher eine der wichtigsten neuen Brücken zwischen beiden Weltbildern – und ebenso für die zukunftsweisende Entwicklung der medizinischen Forschung.
In ihrem Beitrag „East is East and West is West, and never the twain shall meet“ [7] in der TCM-Sonderausgabe des renommierten Science-Journals, beschreiben die Autoren einige Szenarien der Kooperation unter solchen Vorzeichen: Die Integration von Daten und Informationen zu einer real-dynamischen und personalisierten Diagnose ist hierbei das Leitziel. Der traditionelle Erfahrungsschatz der TCM mit der Kategorisierung von dynamischen Symptomen (basierend auf den acht qualitativen Grundprinzipien der TCM-Diagnose extern-intern, heiß-kalt usw.) hat in Verbindung mit der quantitativen Leistungsstärke der modernen Datenanalyse bereits zu erstaunlichen Ergebnissen geführt.[8] Wie bereits angedeutet, kann die reale Wirkung eines spezifischen Merkmals eines chinesischen Medikaments damit in einen Zusammenhang gestellt und direkt erforscht werden. Schon jetzt ist das Folgende absehbar: Die Zukunft liegt in einer hochtechnisierten Medizin, die auf die genetischen Wurzeln und die Lebensgeschichte des einzelnen Patienten zugeschnitten ist.
Der TCM kommt hierin in Praxis und Weltbild eine wichtige Bedeutung zu. Und das ist nur einer der vielen neuen Pfade, der aus der Synthese von westlicher Medizin und des alten chinesischen Heilkunstes aufscheint. Wir leben in einer Zeit des technologischen Umbruchs. Es ist faszinierend zu beobachten, dass Digitalisierung, der Übergang zu intelligenten Computersystemen und hochentwickelte Datenanalyse keineswegs die Entwertung von traditionellen chinesischen Heilmethode bedeutet. Im Gegenteil: Der Austausch von Wissen und Kenntnissen zwischen Europa und China, für den am Beginn der westlichen Renaissance so beispielhaft die Neugierde Marco Polos und die Großzügigkeit seiner chinesischen Gastgeber stand, wird sich im Zeichen der Innovationen unserer Gegenwart nur weiter intensivieren und vertiefen.
Wir wollen unseren Beitrag dafür leisten, dass dies zum Wohle einer menschlichen und lebenswerten Zukunft geschehen kann. In diesem Sinne freuen wir uns sehr, Sie in diesem Blog zukünftig über viele weitere Aspekte der alternativen chinesischen Medizin, über ihre Geschichte und aktuelle Anwendungen ebenso, wie ihrer wissenschaftlichen Erforschung oder ihrer Rolle als Wirtschaftsfaktor unterhalten zu dürfen.